Die Kanzlerin kann ihr Amt nach ihrem Wahldebakel nur in einem schwierigen Viererbündnis behalten. Besser wäre, sie ginge. Dann würde Deutschland nicht wie Österreich.
Auch vermeintliche Wahlgewinnerinnen können dramatische Verlierer sein. So erging es Angela Merkel mit ihrer CDU und der CSU am Sonntag, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. Denn die Union ist zwar weiterhin stärkste Kraft. Aber was heißt das schon? Die Union, die über Jahrzehnte dominierende politische Größe in der Bundesrepublik und im vereinten Deutschland, hat ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 erzielt. Und das gegen eine SPD, die noch tiefer abrutschte, allerdings von einer ohnehin sehr niedrigen Ausgangsbasis. Und gegen einen Kanzlerkandidaten Martin Schulz, der nur in den ersten Wochen den Eindruck erweckte, ihr Paroli bieten zu können.
Ihr Amtsbonus nach zwölf Jahren als Kanzlerin und ihre guten, wenn auch nicht berauschenden persönlichen Beliebtheitswerte halfen Merkel nicht. Im Gegenteil: Das Ergebnis der Union ist noch schlechter als bei ihrer ersten Wahl 2005, als sie nur knapp gegen Gerhard Schröder und dessen damals noch stärkere SPD gewann, obwohl der als Kanzler schon schwer beschädigt war. 2013 hatte Merkel noch fast die absolute Mehrheit der Mandate errungen. Jetzt steht sie da wie eine Königin mit ziemlich wenig Land.
Merkel hat, wie ihre Reaktion am Wahlabend zeigte, das Wahlergebnis nicht verstanden. Sie hat das Gespür dafür verloren, was viele Menschen bewegt – wenn sie das überhaupt je hatte: zu hohe Mieten, nicht ausreichende Löhne, die vielen Flüchtlinge und Migranten, ein großes Unsicherheitsgefühl in einer Welt, die ihnen aus den Fugen geraten zu sein scheint.
Um weiter regieren zu können, braucht sie jetzt erstmals gleich drei andere Parteien: außer der nicht immer schwesterlichen Schwesterpartei CSU noch die FDP und die Grünen, beide neben der AfD – der eigentlichen Wahlsiegerin –, Gewinner dieser Wahl. Das werden für Merkel alles andere als einfache Koalitionsverhandlungen. Denn eine Alternative außer Neuwahlen hat sie nicht, nachdem die SPD eine erneute schwarz-rote Koalition als reduzierter Juniorpartner ausgeschlossen hat. Die Sozialdemokraten unter ihrem Weiter-Vorsitzenden Schulz werden von dieser klaren Absage nur um den Preis des völligen Untergangs abgehen können – oder unter der Bedingung, dass Merkel nicht Kanzlerin bleibt.
Zu Jamaika verdammt
Also ist Merkel zum Erfolg einer Jamaika-Koalition verdammt, die freilich mit karibischem Flair wenig zu tun hätte. Vielmehr mit weiteren Zumutungen für sie. Denn um der AfD die Grundlage zu nehmen, müsste die CDU eigentlich wie die CSU wieder nach rechts rücken. Das hieße aber, dass Merkel ihren eigenen Kurs, die CDU immer mehr in die Mitte zu schieben, um Wählerstimmen zu maximieren und ihr alle nur denkbaren Koalitionsoptionen zu öffnen, ändern müsste.
Aber selbst wenn sie dazu bereit wäre: FDP und Grüne werden genau das verhindern. Denn beide streben zum Beispiel ein Einwanderungsgesetz an und fordern auch auf anderen gesellschaftspolitischen Feldern eine weitere Liberalisierung. Das ist aber genau das Gegenteil von dem, was AfD-Wähler und was die CSU unter ihrem irrlichternden Vorsitzenden Horst Seehofer erwarten. Der wird stattdessen vermutlich wieder auf einer Obergrenze für den Zuzug von Flüchtlingen und Migranten beharren – was allein eine schwarz-dunkelschwarz-gelb-grüne Koalition verhindern könnte.
Das österreichische Schicksal droht
Deutschland hat sich mit dem Wahlergebnis vom Sonntag mit Verspätung in die Reihe anderer europäischer Länder eingereiht. Auch in Frankreich, den Niederlanden, Italien, Österreich, Spanien und den skandinavischen Ländern sind Konservative und Christdemokraten sowie Sozialdemokraten und Sozialisten arg dezimiert, wenn nicht ganz von der politischen Fläche verschwunden. Zumal im Nachbarland Österreich, wo Christ- und Sozialdemokraten noch viel länger als in Deutschland zusammen regiert haben, reicht es den beiden auch dort einstmals großen Parteien selbst zusammen kaum noch zu einer parlamentarischen Mehrheit.
Dasselbe haben CDU und SPD schon in Berlin und Sachsen-Anhalt erlebt. Von einer "großen" Koalition könnte, falls sie im Bund oder in einem Land doch noch einmal zusammen regieren wollten, jedenfalls keine Rede mehr sein. In Sachsen-Anhalt etwa brauchten die beiden Schrumpfparteien 2016 die Grünen als dritten Partner, um überhaupt noch eine Mehrheit zustande zu bringen.
Das Ergebnis des schon länger anhaltenden Abschmelzens der beiden bis in die 1990er Jahre prägenden ehemaligen Volksparteien ist nun ein Siebenparteienparlament, in dem vier kleinere Parteien fast gleich groß sind, die SPD nur noch wenig stärker und auch die CDU mit allein rund 26 Prozent keineswegs mehr eine dominierende Kraft. Vielmehr nähert sich Deutschland damit einer parteipolitischen Zersplitterung wie in den Niederlanden oder Italien. Ein europäische Normalisierung, wenn man so will.
Und mit ähnlichen Folgeerscheinungen: Auch in Zukunft werden Koalitionsbildungen wahrscheinlich immer komplizierter und langwieriger werden. Von stabilen Regierungen – bislang ein nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit zentrales politisches Ziel – werden sich die deutschen Wähler wohl verabschieden müssen, falls sie ihr Stimmverhalten nicht wieder radikal ändern. Denn eine Jamaika-Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen mit teilweise sehr konträren Positionen trüge das Risiko des jederzeitigen Scheiterns in sich – das genaue Gegenteil zur überstabilen schwarz-roten Koalition von 2005 bis 2009 und 2013 bis zu dieser Wahl.
Abspaltung der CSU?
Wie könnte ein Ausweg aus dieser verfahrenen politischen Lage und dem Siegeszug der rechtsnationalen, teilweise völkischen und neonazistischen AfD liegen? Am ehesten darin, dass die CSU das täte, wozu sie einst schon ihr Übervater Franz Josef Strauß treiben wollte, als er bereits in den 1970er Jahren den Untergang der Union als dominierende Kraft im damaligen Drei- beziehungsweise Vierparteiensystem befürchtete: Abspaltung von der CDU und bundesweites Antreten als eigenständige rechts- bis nationalkonservative, aber demokratische Kraft, um der AfD Einhalt zu gebieten. Über die traditionelle Fraktionsgemeinschaft mit der CDU hat CSU-Chef Seehofer zumindest gesagt, man müsse darüber reden.
Die CSU, die am Sonntag zu ihrem heillosen Erschrecken ihr gleichfalls schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl seit 1949 erlebte, müsste dann allerdings gewärtigen, dass die CDU auch in Bayern anträte. Damit hatte seinerzeit schon Strauß' Widersacher Helmut Kohl gedroht. Mit der absoluten Mehrheit in Bayern wäre es dann für die CSU vorbei. Wenn ihr das nicht 2018 ohnehin durch einen weiteren Siegeszug der AfD auch im weißblauen Freistaat droht.
Dazu kommt: Ohne die CSU hätte die CDU selbst mit FDP und Grünen keine Mehrheit mehr im Bundestag. Genauso wenig wie mit der SPD. Merkel wäre endgültig eine Königin ohne Land.
Merkels Abgang: Gut für die Union und das Land
Treibt man dieses Gedankenspiel auf die Spitze, wäre die einzig verbleibende und wohl auch sinnvollste Lösung, dass Merkel ihren Anspruch auf das Kanzleramt aufgibt. Es sollte ohnehin ihre letzte Amtszeit werden. Träte sie schon jetzt und nicht erst in der Mitte oder gegen Ende ihrer vierten Amtszeit ab, entzöge sie der AfD ihre entscheidende Basis als Protestpartei gegen ihre Flüchtlingspolitik, gegen ihre bisherige faktische Dauer-ganz-große-Koalition und gegen sie als ewige Kanzlerin.
Wer aber könnte an ihre Stelle treten? Denkbar wären zwei mögliche Aspiranten: die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer und der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier. Kramp-Karrenbauer hat Erfahrungen, wenn auch nicht sehr erfolgreiche, mit einer Jamaika-Koalition wie mit einer großen. Sie ist frische Wahlsiegerin aus dem Frühjahr, sie ist Merkelianerin, also wie ihr Vorbild im Kanzleramt politisch offen, und sie genießt Merkels Gunst. Das allerdings spricht schon fast wieder gegen sie, genauso die Tatsache, dass sie aus einem winzigen Landesverband der CDU stammt und deshalb wenig Rückhalt in der Bundespartei hat.
Bouffier dagegen kommt aus einem großen, früher sehr konservativen CDU-Landesverband. Er regiert erfolgreich schwarz-grün, hat aber als ehemaliger Landesinnenminister gezeigt, dass er auch Law-and-order kann. Der joviale 65-Jährige wäre, als liberal-konservativer Übergangskanzler ohne große Ambitionen und als Mann nach einer Frau, eine fast ideale Besetzung für die Merkel-Nachfolge. Es müsste ihr nur jemand beibringen.