IG Med: Brief an Jens Spahn: Systemversagen im Gesundheitswesen

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  • Letzter Beitrag 24 Juni 2018
Dr. Günter Gerhardt schrieb 24 Juni 2018

IG Med schreibt an Spahn

"Systemversagen im Gesundheitswesen"

Der Vorstand der IG Med (im Bild Dr. Rolf Mahlke, Dr. Steffen Grüner und Dr. Ilka M. Enger, v.l.) fordert konkrete Maßnahmen vom neuen Bundesgesundheitsminister.
© änd-Archiv

Die neu gegründete Organisation IG Med hat sich erstmals direkt in einem Offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gewandt – und ein dringendes Gespräch über die Situation der Ärzteschaft gefordert. „Sie erleben derzeit, dass viele unserer Kollegen die innere Kündigung in diesem System bereits abgegeben haben und auch durch den massiven Druck, der durch immer neue gesetzgeberische Maßnahmen aufgebaut wird, nicht mehr zu noch mehr Arbeit zu bewegen sein werden“, so die Warnung der IG Med.

Weder Terminservicestellen, noch eine Zwangsverpflichtung für obligate Sprechstundenzeiten würden dafür sorgen, dass Ärzte dieses System unter Vernachlässigung ihrer eigenen Gesundheit noch aufrechterhalten könnten und wollten. Leider müsse in diesem Zusammenhang das Wort „Systemversagen“ in den Raum gestellt werden, „denn die kassenärztlichen Vereinigungen können unter den derzeit herrschenden Bedingungen die Sicherstellung nicht mehr gewährleisten“, heißt es weiter.

Dr. Günter Gerhardt schrieb 24 Juni 2018

Systemversagen im Gesundheitswesen

- Offener Brief an den deutschen Gesundheitsminister -

Sehr geehrter Herr Gesundheitsminister Spahn,

jeden Tag auf’s Neue erfahren wir aus den Schlagzeilen, wo es im deutschen Gesundheitswesen nicht mehr klappt.

Derzeit stürzen Sie sich mit Verve auf das naheliegende Problem – die Pflege - weil es derzeit die größte Sorge vieler ist, wie sie im Alter und bei körperlicher Gebrechlichkeit ein einigermaßen lebenswertes Leben führen können. Zum Zweiten wird die mittelalte und junge Gesellschaft natürlich auch durch die in vielen Fällen notwendige Pflege der Eltern- oder Großeltern-Generation belastet.

Allerdings ist der Mangel an Pflegekräften eben nur eines der Symptome, die jedem, der ein bisschen Diagnose oder Analyse kann, zeigen dass unser Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps stehen dürfte. Erlauben Sie mir einen schonungslosen Blick in das bundesdeutsche Gesundheitswesen.

Es ereilte Sie ein Brief der Feuerwehrgewerkschaft, dass man durch Bagatellfälle im Not- und Bereitschaftsdienst derart mit Arbeit zugeschüttet ist, dass es nicht mehr gelingt, die wirklich schwerkranken oder –verletzten Patienten noch adäquat zu versorgen. Auch im Bereich der Rettungskräfte findet man zunehmend einen Personalmangel.

Die Hebammen können ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben, weil ihnen die hohen Versicherungskosten die Luft abschnüren und die Betreuung mehrere Geburten gleichzeitig, was zugegebenermaßen nicht die Regel sein sollte, ihnen nicht adäquat vergütet wird.

Die Apotheken auf dem Land gehen Ihnen derzeit auch aus, weil die Vergütungssituation für den patientennahen Dienst – auch außerhalb der Öffnungszeiten – nicht adäquat finanziert wird und es sich mehr lohnt, einen Apothekenversandhandel in den europäischen Nachbarländern zu betreiben als sich um den Kunden vor Ort zu kümmern.

In den Kliniken versprechen Sie zwar vollmundig, dass es mehr Personal geben soll, aber dieses Personal ist aus den DRGs nicht zu finanzieren, so dass mir Chefärzte berichten, dass sie bei jeder Tariferhöhung eher Personal entlassen müssen, denn neues einstellen können. Damit werden auch die Schwestern und Pfleger in den Kliniken so ausgelutscht, dass Sie irgendwann total verbrannt ihren Dienst quittieren müssen.

Zuletzt möchte ich Sie auch einen Blick in die ärztliche Landschaft in Deutschland werfen lassen:

Durch eine Gesundheitspolitik, die Sie auch seit mehreren Jahren begleiten durften und mit Ihren Ideen befruchtet haben, wurden mehrere Ärztegenerationen verbrannt und in den Burnout getrieben. Und unsere Nachfolgegeneration zeigt Ihnen und der gesamten Politik inzwischen, was sie davon hält, die „Work-Life-Balance“ so zu opfern wie wir Ärzte um die 50 das getan haben.

Sie erleben derzeit, dass viele unserer Kollegen die innere Kündigung in diesem System bereits abgegeben haben und auch durch den massiven Druck, der durch immer neue gesetzgeberische Maßnahmen aufgebaut wird, nicht mehr zu noch mehr Arbeit zu bewegen sein werden. Weder Terminservicestellen, noch eine Zwangsverpflichtung für obligate Sprechstundenzeiten werden dafür sorgen, dass Ärzte dieses System unter Vernachlässigung ihrer eigenen Gesundheit noch aufrechterhalten können und wollen. Auch wenn unsere sog. Standesvertreter einstmals zum Erhalt des Körperschaftsstatus versprochen haben, dass sie dafür sorgen werden, dass Ärzte 24 Stunden am Tag für die Gesundheit ihrer Patienten da sein werden, können wir als Ärzte dieses Versprechen nicht mehr einlösen und wollen das unter diesen Bedingungen auch gar nicht. Hier verweisen wir auch auf die Umfrage des bayerischen Facharztverbandes aus dem Mai dieses Jahres, die in dieser Woche veröffentlicht wurde (https://www.bayerischerfacharztverband.de/bayerischer-facharztverband/aktuelles/umfrageergebnis-zur-notfallversorgung/).

Sehr deutlich wird dabei, dass alle Ihre angedachten Notmaßnahmen nicht greifen werden – oder im schlimmsten Fall zum Turbolader für den drohenden Ärztemangel werden.

Leider müssen wir Ärzte in diesem Zusammenhang das böse Wort „Systemversagen“ in den Mund nehmen, denn die kassenärztlichen Vereinigungen können unter den derzeit herrschenden Bedingungen die Sicherstellung nicht mehr gewährleisten – im Gegenteil durch unsinnige Fördermaßnahmen, durch die Umsetzung der gesetzgeberischen Zwänge und durch noch mehr Kontrollbürokratie werden die Gelder für die Patientenversorgung unnütz verbrannt.

Es wird aber auch nicht gelingen, durch irgendwelche hektischen Notmaßnahmen, wie mehr Studienplätze und eine neue Vergaberichtlinie wie die „Landarztquote“ diesen medizinischen Notzustand noch abzuwenden.

Es hat auch keinen Sinn, noch mehr Zwangsmaßnahmen und Sanktionen gegen die noch verbleibenden willigen Ärzte zu verhängen – die gehen nicht mehr auf die Straße, aber sie gehen dafür dann in den vorzeitigen Ruhestand, ins Ausland oder verlassen den Beruf ganz (s. Umfrageergebnisse des BFAV).

Verehrter Herr Bundesgesundheitsminister, wollen Sie zumindest noch einen medizinischen Notbetrieb aufrechterhalten?

Dann wird es Zeit, dass Sie sich nicht nur mit Vertretern der Körperschaften und Berufsverbände unterhalten oder mit Gesundheitswirtschaftlern und eHealth-Konzernen, sondern sich über die Forderungen der Ärzte informieren, die derzeit noch mehr schlecht als recht den aus den Fugen geratenen Medizinbetrieb am Laufen halten.

Wir von der Interessengemeinschaft Medizin haben Ihnen bereits ein Gespräch angeboten. Eine Antwort Ihrerseits steht aber noch aus.

Wir erwarten drei Maßnahmen von Ihnen in der jetzigen Regierungszeit:

1. Wir erwarten, dass die Arbeit der am und mit den Patienten arbeitenden im Gesundheitswesen leistungsgerecht und angemessen honoriert wird denn auch das ist eine Wertschätzung unseres Berufes, dass wir davon „gut und gerne leben können“

2. Wir erwarten, dass sich unsere Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern und man uns nicht mit staatlich verordneter Gängelung und Kontrollitis unsere Arbeit inzwischen unmöglich macht und uns für die mangelnde Finanzierung des Gesundheitswesens via Regressen haftbar macht.

3. Wir erwarten, dass das Sozialgesetzbuch V auf den Prüfstand gestellt wird und in der Form verändert wird, dass weder Patienten noch die sie betreuenden heilberuflich Tätigen den Krankenkassen quasi als Objekte der Krankenversorgung unterstellt werden. Wir erwarten, dass Patient und Arzt sich als gleichberechtigte Vertragspartner gegenüber stehen dürfen und nicht die Krankenkassen und der Staat als Dritte über die Versorgung des Einzelnen entscheiden. Wir in der Gesundheitsversorgung tätigen sind es leid, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, denen man ohne entsprechende Entschädigung wichtige Bürgerrechte vorenthält.

Wir denken auch, dass es an der Zeit wäre, die Bürger darüber aufzuklären, dass unser Gesundheitswesen ohne eine entsprechende grundlegende Veränderung nicht länger überlebensfähig ist. Und wir sind der Meinung, dass es auch an der Zeit ist, die Bürger in die Pflicht zu nehmen, dass sie mit den noch verbleibenden Ressourcen im deutschen Gesundheitssystem pfleglich umgehen müssen.

Es ist unseres Erachtens auch Verantwortung der Politik, dass den Bürgern der Eindruck vermittelt wurde, dass sie jederzeit ohne eigenen Beitrag medizinische Versorgung erhalten würden und sich nur „bedienen“ zu bräuchten. Das lädt die Verantwortung auf den Schultern der im Gesundheitswesen tätigen Leistungsträgern ab und überlastet sie bis zum Zusammenbruch. Das ist in unseren Augen ein unsoziales, ja vielleicht sogar asoziales Verhalten uns Gesundheitsberuflern gegenüber. Und das muss ein Ende haben.

Sehr geehrter Bundesgesundheitsminister, wir wiederholen unser Angebot zu einem Gespräch. Allerdings sind wir inzwischen in einer Situation, die es nicht länger zulässt, die oben geschilderten Zustände über uns ergehen zu lassen, so dass wir uns bei weiterer Verweigerung von entsprechenden dienlichen Maßnahmen gezwungen sehen, den „ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag“ mit dem deutschen Staat als nichtig zu betrachten.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. med. Ilka M. Enger

Für den Vorstand der IG Med i.G.

23.06.2018 07:52:27, Autor: js

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