Interview mit der gesundheitspolitischen Sprecherin der Grünen Maria Klein-Schmeink zu den Lehren aus der Krise.
Schutzschirm für GKV Ausfälle
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- Letzter Beitrag 20 Juni 2020
Der Schutzschirm für Ausfälle bei GKV-Patienten ist wirklich adäquat“
Derzeit kann Deutschland in der Corona-Pandemie aufatmen. Damit ist es Zeit für eine Zwischenbilanz zum bisherigen Krisenmanagement. Über die Lehren aus der Krise sprach der änd mit der gesundheitspolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink.
Der Gipfel der Corona-Krise scheint zunächst überschritten. Wie sind Sie mit dem Corona-Management der Bundesregierung bislang zufrieden?
Teils, teils. Deutschland ist bisher sehr gut durch diese Pandemie gekommen. Die Bevölkerung war im großen und ganzen sehr solidarisch. Dazu beigetragen hat ein transparentes Vorgehen von Gesundheitsminister Jens Spahn. Zumindest zu Beginn wurde auch die Opposition gut einbezogen. Wir hatten Gelegenheit, auf manche Dinge hinzuweisen und den Eindruck, dass die Hinweise ernstgenommen werden.
Gleichzeitig hat sich aber in der Krise das fortgesetzt, was wir als Grüne allgemein im Gesundheitswesen kritisieren: Es gibt eine sehr akutlastige Prioritätensetzung. Im Blick hatte man hauptsächlich die klassischen Leistungserbringer, also Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte, aber wenig andere Berufsgruppen. Insbesondere die Pflege ist sehr stiefmütterlich behandelt worden. Wenn sie früher in den Blick gekommen wäre, hätten Ausbrüche in Pflegeheimen vermieden werden können. Auch beim Zugang zu Schutzmaterialien zeigt sich deutlich, dass die Pflege, aber auch die anderen Gesundheitsberufe am Katzentisch gesessen haben. Erst jetzt kann man so nach und nach davon ausgehen, dass sie adäquat ausgerüstet sind.
Dieser Fokus auf die Akutversorgung hat sich auch bei den Schutzschirmen fortgesetzt. Aber man muss auch sagen: Vier von fünf Corona-Infizierten sind über die niedergelassenen Ärzte versorgt worden. Das ist eine enorme Leistung.
Damit nehmen Sie meine nächste Frage schon vorweg: Deutschland verfügt im Vergleich zu vielen anderen Ländern über ein breites Netz an niedergelassenen Ärzten. Trägt diese ambulante Versorgungsstruktur ihrer Einschätzung nach auch dazu bei, dass diese Epidemie insgesamt in Deutschland bisher so glimpflich verlaufen ist?
Ja, das zeigen die Zahlen ja deutlich. Aber wir haben an dieser Stelle auch Defizite gesehen. Es gab Regionen, wo die Kassenärztlichen Vereinigungen einen guten Job gemacht haben. Es gab aber auch Regionen, wo es sehr lange gedauert hat, bis Kollektivlösungen entstanden sind, so dass nicht jeder einzelne niedergelassene Arzt schon mit der ersten Welle von Sortieren zwischen Infizierten und Nicht-Infizierten konfrontiert war.
Welche Regionen haben es aus Ihrer Sicht denn gut gemacht und welche weniger?
In Westfalen-Lippe, wo mein Wahlkreis liegt, lief es sehr vorbildlich. Dort wurden sehr früh gemeinsame Clearingzentren eingerichtet. Es gab sehr viele strukturierte Wege, die auch für die Bevölkerung im Benehmen mit den Gesundheitsämtern sehr gut kommuniziert wurden. Aus anderen Regionen habe ich anderes gehört. Auch in Berlin war es ja am Anfang sehr mühselig.
Sie haben eingangs gesagt, dass Deutschland die Corona-Pandemie bislang gut bewältigt hat und vor allem besser als viele andere Länder. Was hat denn Ihrer Meinung nach wirklich gut funktioniert?
Das war das sehr frühzeitige und transparente Vorgehen bei der Frage: Wie gehen wir mit steigenden Infektionszahlen um? Man hat es geschafft, der Bevölkerung nachvollziehbar klarzumachen, wie wichtig Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen sind. Für viele ist wirtschaftlich damit ein enormer Schaden verbunden. Das geht mit vielen Ängsten einher und dennoch ist es ganz gut gelaufen.
Und was ist Ihrer Meinung nach besonders schief gelaufen?
Zum einen hat sich sehr deutlich gezeigt, dass wir viel zu wenig Vorratshaltung für Schutzmaterialien in den Krankenhäusern aber auch im niedergelassenen Bereich haben. Zu den Aufgaben hat das aber immer schon gehört. Und zum zweiten war es ein echtes Versäumnis, dass auf den Handlungsfeldern, die im Pandemieplan von 2012 identifiziert und festgelegt waren, gar nichts passiert ist. Aus diesen Versäumnissen müssen wir jetzt wirklich lernen.
Welche Lehren lassen sich aus der Krisensituation bislang ziehen?
Wir müssen dringend den öffentlichen Gesundheitsdienst stärken. Gerade zu Beginn der Krise hat sich gezeigt, dass manche Gesundheitsämter beinahe handlungsunfähig sind, weil sie viel zu wenig Personal haben. Da muss dringend nachgebessert werden. Aber auch bei den Kommunikationsstrukturen. Das Zweite Bevölkerungsschutzgesetz sieht hier in Ansätzen Verbesserungen vor, wobei da natürlich die Nachhaltigkeit im Raume steht. Infektions-Scouts und Nachverfolgungs-Gruppen mit Studenten sind ein Vorgehen für die akute Krise, aber kein Konzept, das auf die Dauer trägt. Daran muss gearbeitet werden.
Außerdem ist es vernachlässigt worden, Schutzkonzepte für Risikogruppen zu erarbeiten. Das Schutzkonzept bestand einfach in Besuchsverboten in Pflegeheimen, die soweit reichten, dass selbst ein Physiotherapeut da nicht mehr rein durfte und kaum noch Ärzteschaft dort zu finden war. Das geht nicht. Erst jetzt mit der Verordnung zur Testung kommen wir hier zu einem differenzierteren Vorgehen. Aber auch da gibt es kein Konzept, das nach draußen kommuniziert worden wäre. Strategische Ziele wurden nicht dargelegt, weder für Pflegeheime noch für Krankenhäuser. Das müsste viel stärker fachlich unterlegt sein. In ihrer jetzigen Form wirkt die Verordnung doch eher wie ein Kompromiss zur Kostenbegrenzung.
Eine Reihe gesetzlicher Maßnahmenpakete zur Pandemie-Bekämpfung haben Sie als Mitglied im Gesundheitsausschuss bei den parlamentarischen Verfahren hautnah begleitet: Wie haben Sie die Debattenkultur erlebt? War die Stimmung aufgeheizter oder im Gegenteil vielleicht harmonischer als sonst?
Beim ersten Bevölkerungsschutzgesetz bestand ja ein unglaublicher Handlungsdruck. Da sind wir sehr konstruktiv in die Debatten gegangen, obwohl wir große Kritik daran hatten, dass ein so großer Handlungsspielraum für das Bundesgesundheitsministerium in dem Gesetz niedergelegt wurde. Wir waren froh, dass sich wenigstens durchgesetzt hat, dass das Parlament die epidemische Notlage ausruft und auch wieder aufhebt, und dass das nicht nur vom Dekret eines Ministers abhängt. Aber die umfangreiche Ermächtigung zu Rechtsverordnungen, die ja soweit geht, dass sämtliche SGB-V-Regelungen ohne parlamentarischen Vorbehalt aufgehoben werden können, ist schon verfassungsrechtlich zu hinterfragen. Es kann nicht sein, dass ich von Verordnungen als Parlamentarierin nur durch die Verbände etwas erfahre, die die Referentenentwürfe erhalten haben.
Zahlreiche Lockerungen sind inzwischen erfolgt. Es gab auch Forderungen, die vom Bundestag festgestellte epidemische Lage nationaler Tragweite aufzuheben. Wie stehen Sie in dieser Frage?
Wir können derzeit nicht sagen, dass wir am Ende einer Pandemie wären, sondern wir sind noch mittendrin. Wir können zwar froh sein, dass wir einen kontinuierlichen Rückgang der Infektionszahlen sehen. Aber wir wissen, dass das sehr fragil sein und sich regional sehr schnell verändern kann. Insofern müssen wir da wachsam bleiben und immer wieder an die Bevölkerung appellieren. Diesen Handlungsspielraum brauchen wir. Aber ich sehe nicht ein, warum er nicht parlamentarisch rückgebunden sein soll. Ich wäre als Abgeordnete jederzeit bereit, häufiger zusammenzukommen. Daran scheitert es nicht. Wir haben auch Karfreitag und Ostern gearbeitet.
Ich komme nochmal zurück auf die Folgen der Corona-Krise für die Arztpraxen. Viele rechnen mit teils heftigen finanziellen Einbußen. Es gibt jetzt den Schutzschirm der Bundesregierung und die Möglichkeit Kurzarbeitergeld für Angestellte zu beantragen. Halten Sie diese Hilfen für die niedergelassenen Ärzte für ausreichend?
Der Schutzschirm für Ausfälle in der ärztlichen Versorgung gesetzlich versicherter Patienten ist wirklich adäquat. Dass die vereinigte Ärzteschaft dann auch auf die Private Krankenversicherung zugehen muss – da sie dieses duale System, das wir als Grüne kritisieren, ja immer verteidigt -, ist ihre Sache. Ich finde aber, dass Kurzarbeit nicht zu diesem Schutzschirm passt. Da sehe ich eher Nachsteuerungsbedarf bei den Gesundheitsberufen, die nicht so eine großzügige Regelung haben wie die Ärzteschaft. Dort einfach zu sagen, das sind freie Unternehmer, obwohl sie ja absolut versorgungsrelevant sind, das geht nicht.
Die Corona-Krise war nun über drei Monate hinweg das absolut beherrschende Thema auf der politischen Agenda. Sind Ihnen andere Themen darüber zu kurz gekommen?
Es gibt erhebliche Handlungsbedarfe, und einige davon haben sich jetzt in der Krise sehr deutlich gerächt. Nehmen Sie schlichtweg die Bezahlung, Wertschätzung und Anerkennung der Profession der Pflege und die Berücksichtigung ihres Knowhows in Beratungen und Entscheidungen.
Aber auch bei der Krankenhausfinanzierung hat sich der Handlungsbedarf jetzt gezeigt. Es gilt dringend das Zusammenspiel von bedarfsgerechter und kriteriengeleiteter sektorübergreifender Versorgungsplanung und Krankenhausfinanzierung inklusive Investitionsfinanzierung zu regeln. Eigentlich sollten dazu jetzt im Juni in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Fakten geschaffen werden. Aber ich gehe davon aus, dass die Debatte in der Arbeitsgruppe unter Corona-Vorzeichen stehen und eher von der Frage geprägt werden wird, ob der Schutzschirm ausreichend ist.
Weiterhin steht für uns die Frage auf der Agenda: Wie kommen wir zu verlässlicher bedarfsgerechter Versorgung in Deutschland, wobei wir Versorgung im breiten Sinn nicht nur medizinisch-ärztlich verstehen. Die überfällige Diskussion darüber werden wir als Fraktion noch vor der Sommerpause mit einem Antrag anheizen.
Bei der Digitalisierung hat sich in der Krise auch gezeigt, wie sehr sich ein Rückstand rächt. Aber ich denke, das bleibt auf der Agenda. Allerdings wird es wohl auch bei der EU-Ratspräsidentschaft sehr stark um Lehren aus der Corona-Krise gehen und weniger um andere Bereiche.
Ihr Ausblick?
Die Corona-Krise hat etliche Felder sehr deutlich beleuchtet, wo wir nicht weiter machen können wie bisher. Ich bin froh, dass der Blick dafür geschärft worden ist, dass wir gesundheitliche Versorgung nicht einfach einem Marktgeschehen überlassen dürfen, sondern sie wirklich als öffentliche Verantwortung sehen müssen. Diese Diskussion wird sicher die politische Agenda in Zukunft stärker bestimmen.
Zur Person:
Maria Klein-Schmeink ist seit 2009 für Bündnis 90 / Die Grünen im Bundestag und im Gesundheitsausschuss. Die 62-jährige Soziologin, Politikwissenschaftlerin und Pädagogin hat ihre politische Laufbahn 1993 in Münster begonnen. Von 1995 bis 2009 war sie dort Fraktionsvorsitzende. Im Jahr 2002 wechselte sie zur grünen Landtagsfraktion NRW.
Der Schutzschirm für die Vertragsarzt- und Vertragspsychotherapeutenpraxen umfasst Leistungen, die aus der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung honoriert werden, und Leistungen, die extrabudgetär bezahlt werden.
Er sieht Folgendes vor:
- Praxen mit Umsatzverlusten von zehn Prozent und mehr und einem pandemiebedingten Rückgang der Fallzahlen können einen Ausgleich für extrabudgetäre Leistungen wie Früherkennungsuntersuchungen, Impfungen oder ambulante Operationen erhalten. Vergleichszeitraum ist das jeweilige Quartal des Vorjahres.
- Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung (MGV) trotz reduzierter Leistungsmenge im regulären Umfang an die Kassenärztlichen Vereinigungen aus. Sie müssen also genauso viel Geld für die Versorgung der Patienten bereitstellen wie zu „normalen“ Zeiten. Somit können Verluste bei MGV-Leistungen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen kompensiert werden.
Nach welchen genauen Vorgaben die Verluste in der extrabudgetären Gesamtvergütung und in der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung ausgeglichen werden, wird derzeit zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen verhandelt.
Corona-Rettungsschirm
Legen Länder-KVen das Gesetz falsch aus?
Im COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz wurden Regelungen aufgenommen, um einen Rettungsschirm für die vertragsärztliche Versorgung aufzuspannen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) sollen nun Änderungen beim Honorar-Verteilungsmaßstab vornehmen, um Praxen mit starken Fallzahlrückgängen unter die Arme zu greifen. Einige KVen haben die Spielregeln dabei aber noch nicht ganz verstanden, warnt der Spitzenverband Fachärzte Deutschlands (SpiFa).
Das Gesetz sehe dabei eindeutig vor, dass die KVen im Benehmen mit den Krankenkassen entsprechende Ausgleichszahlungen aufgrund der Corona-Pandemie vornehmen sollen. „Eine Umfrage unter Federführung unseres Verbandes macht deutlich, dass einige Länder-KVen aber von einer Einvernehmensregelung ausgehen. Damit sind sie bereit, die eigenen Beschlüsse zur Umsetzung des Rettungsschirms mit den Krankenkassen zu verhandeln und ggf. zu korrigieren“, berichtet Lars F. Lindemann, Hauptgeschäftsführer des SpiFa.
Zur Erinnerung. Im Verwaltungsrecht bedeutet Einvernehmen, dass vor einem Rechtsakt das Einverständnis einer anderen Stelle vorliegen muss. Ist dagegen eine Entscheidung lediglich im Benehmen mit einer anderen Stelle zu treffen, so bedeutet dies, dass dieser Stelle lediglich Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist, ohne dass ein Einverständnis erforderlich wäre.
Lindemann: „Der SpiFa möchte mit aller Deutlichkeit daran erinnern, dass es sich um eine Benehmens-Regelung und nicht um eine Einvernehmens-Regelung handelt.“ Es gebe keinen Grund, aus sachfremden Motiven dem stets bestehenden Begehren der Krankenkassen nach Einvernehmen nachzugeben. „Einvernehmen war und ist an dieser Stelle vom Gesetzgeber nicht vorgesehen und führt hier zu völlig unterschiedlicher Handhabung in den 17 Länder-KVen“, so Lindemann weiter.
Nordrhein
KV und Kassen einigen sich auf Schutzschirm für Praxen
Der Corona-Schutzschirm für die rund 19.500 nordrheinischen Vertragsärzte und -psychotherapeuten steht. Demnach sind ihnen 90 Prozent des Honorars bezogen auf das Vorjahresquartal sicher. Die Vertreterversammlung (VV) der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNo) hat einer entsprechenden Änderung des Honorarverteilungsmaßstabs (HVM) zugestimmt. Einer Umfrage zufolge sind Fallzahlen und Leistungen fachgruppenübergreifend um ein Viertel eingebrochen.
Schwarz
„Im Großen und Ganzen sind wir in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern glimpflich durch die Krise gekommen“, betonte Dr. Frank Bergmann mit Blick auf die Pandemie mit dem Coronavirus Sars-CoV-2. „Zu keiner Zeit gab es die Gefahr, dass das Gesundheitswesen überfordert wurde“, so der Vorstandsvorsitzende der KVNo. Anlass war eine kurzfristig beschlossene Sondersitzung der VV, die erneut als Videokonferenz stattgefunden hat.
Im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf waren lediglich der Vorstand der KVNo, der Vorsitzende der VV und sein Stellvertreter sowie einzelne Mitarbeiter der Verwaltung. „Dass das Ganze in Deutschland so glimpflich verlaufen ist, ist auch und vor allem der Arbeit und des Einsatzes der niedergelassenen Ärzte geschuldet“, führte Bergmann weiter aus. Ein so dichtes Netz an Vertragsärzte und -psychotherapeuten geben es „nirgendswo auf der Welt wie in Deutschland“. Sechs von sieben Covid-19-Erkrankte seien durch niedergelassene Ärzte versorgt worden. Dadurch seien Krankenhäuser und Krankenhausambulanzen entlastet worden. Vor diesem Hintergrund beschloss die VV einstimmig eine Resolution, die die besondere Rolle der Vertragsärzte und -psychotherapeuten hervorhebt und unter anderem feststellt, dass „das Aufrechterhalten der Regelversorgung neben dem Lockdown die entscheidende Maßnahme zur Begrenzung der Pandemie in Deutschland" war. Dieses Engagement haben Bergmann zufolge auch die Fraktionen des nordrhein-westfälischen Landtags gewürdigt. „Anerkennung muss allerdings auch in konkrete Verbesserungen münden“, forderte er mit Blick auf das von der Bundesregierung Anfang Juni verabschiedete Konjunkturpaket.
Schutzschirm ist ein „akzeptables Ergebnis“
Eine Schieflage zu Ungunsten der Vertragsärzte hat sich nach Auffassung des KVNo-Chefs gleich zu Beginn der Pandemie abgezeichnet. „Das Krankenhauswesen hatte seine Kapazitäten drastisch reduziert, zum Teil auf 50, zum Teil auf 30 Prozent. Alle anderen Betten waren zu, auch in Krankenhäusern, die nicht an der Versorgung von Covid-19-Patienten teilgenommen haben.“ Jedes freigehaltene Bett sei mit rund 600 Euro pro Tag vergütet worden. Außerdem hätten Ärzte und Pflegekräfte Überstunden abgebaut. „Es war schon ein sehr großzügiger Schutzschirm für den stationären Sektor da, der jetzt nach weiteren strukturellen Veränderungen ruft“, stellte Bergmann fest. Das Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetz ist aber zugleich auch die Grundlage für den Schutzschirm der niedergelassenen Ärzte, auf den sich die KVNo und die nordrheinischen Krankenkassen verständigt haben. Demnach soll das Honorar von Praxen, die während der Coronavirus-Pandemie Einnahmerückgänge verzeichnet haben, vom ersten Quartal dieses Jahres an auf bis zu 90 Prozent ihres Honorars im Vorjahresquartal aufgestockt werden. „Wir sind hier zu einem akzeptablen Ergebnis gekommen, das die Liquidität der Praxen auf Dauer sichern kann.“
Ausgleichszahlung kommt automatisch
Voraussetzung für den Erhalt der Ausgleichszahlung ist ein Rückgang beim Gesamthonorar um mehr als zehn Prozent und einem nachweislich mit der Coronavirus-Pandemie zuhängenden Rückgang der Fallzahlen. Bei Psychotherapeuten wird nicht die Fallzahl, sondern die Behandlungszeit als Vergleich für einen Rückgang herangezogen. Die Ausgleichszahlung erfolgt getrennt für die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung (MGV) und die extrabudgetäre Gesamtvergütung (EGV) und wird automatisch veranlasst. Ob die Praxen durchgängig während der Pandemie ihren Sicherstellungsauftrag erfüllt haben, sollen sie durch eine Selbsterklärung darlegen. Zusätzlich soll stichprobenhaft geprüft werden, ob der Sicherstellungsauftrag tatsächlich erfüllt wurde. Die VV stimmte dem so geänderten HVM bei wenigen Enthaltungen zu.
Studie belegt Umsatzverluste in fast allen Praxen
Wie wichtig die Ausgleichzahlungen sind, belegen die Ergebnisse einer repräsentative Umfrage der KVNo unter 1.415 Praxisinhabern. „Sie zeigen, dass die Pandemie in fast allen Praxen und allen Fachgruppen zu Umsatzverlusten geführt hat“, erläuterte Bergmann. Demnach sind die Fallzahlen und Leistungsmengen fachgruppenübergreifend um rund ein Viertel zurückgegangen. „Es gab auch in allen Fachgruppen vereinzelt Praxen mit einem Fallzahlrückgang von über 50 Prozent.“ Am stärksten betroffen seien die Augenärzte. Sie behandelten der Umfrage zufolge nur noch halb so viele Fälle wie vor der Coronavirus-Pandemie. HNO-Ärzte, Orthopäden, hausärztliche Kinder- und Jugendärzte sowie Chirurgen hätten über ein Drittel weniger Fälle. Ein ähnliches Bild zeige sich auch beim Rückgang der Leistungsmengen. Er falle in operativ tätigen Fachgruppen deutlich höher aus als bei ausschließlich konservativ behandelnden Fachgruppen. Bei den Leistungsarten seien die Rückgänge bei der Vorsorge, den Früherkennungsuntersuchungen, den individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) und den operativen Leistungen am stärksten. Außerdem hätten fast alle Praxen angegeben, dass sie pandemiebedingt höhere Ausgaben hatten als sonst. Drei Viertel aller Praxen hätten angegeben, eine höhere Arbeitsbelastung gehabt und dementsprechend Überstunden gemacht zu haben. Unterstützungsleistungen wie staatliche Soforthilfen und Kurzarbeitergeld hätten hingegen nur wenige Praxen in Anspruch genommen.
Ansturm im zweiten Quartal erwartet
Wie groß die Umsatzverluste der Praxen tatsächlich sind, lässt sich nach Angaben Bergmanns zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. „Belastbare Zahlen haben wir erst, wenn die Quartalsauswertungen vorliegen.“ Der KVNo-Chef geht davon aus, dass es erst im zweiten Quartal zu einem Ansturm auf den Schutzschirm kommen wird. Außerdem sollen die Vertragsärzte zusätzliche Kosten, die ihnen während der Pandemie etwa für die Beschaffung von Schutzausrüstung entstanden sind, von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet bekommen. „Das ist der zweite Teil des Schutzschirms“, betonte Bergmann. „Dafür gibt es ja auch eine gesetzliche Grundlage und auf dieser Basis verhandeln wir das auch“, ergänzte er mit Blick auf das Krankenentlastungsgesetz. Es zeichne sich bereits ab, dass man in Nordrhein zu ähnlichen Ergebnissen kommen werde wie in Westfalen-Lippe. Allein der KVNo sind durch die Beschaffung von Schutzausrüstung, ihren Transport und ihre Ausgabe, durch die IT-Unterstützung der Diagnosezentren und die Honorare für ärztliche Beratungsdienste am Telefon und in den Diagnosezentren Ausgaben in Höhe von mehr als sieben Millionen Euro entstanden.
Konjunkturpaket in der Kritik
Deutliche Kritik äußerte der KVNo-Vorstandsvorsitzende am Konjunkturpaket der Bundesregierung. „Das Paket soll unter anderem mit 9,75 Milliarden Euro das Gesundheitswesen stärken und den Schutz vor Pandemie verbessern. Dazu gehört nach dem Willen der Koalition ausdrücklich, die Krankenhäuser zukunftsfest zu machen.“ Genannt seien moderne Notfallkapazitäten mit besserer Ausstattung und besserer digitaler Infrastruktur. Erhebliche Mittel seien auch zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens vorgesehen, um ihn personell zu stärken und digital aufzurüsten. „Ärgerlicherweise hat man nach Maßnahmen zur Stärkung der vertragsärztlichen Versorgung in diesem Maßnahmenkatalog vergeblich gesucht.“ Das sei mehr als misslich. „Warum wird die Digitalstruktur im stationären Sektor gestärkt, aber nicht im vertragsärztlichen Bereich?“ Bergmann befürchtet, dass der in Nordrhein-Westfalen (NRW) nötige „Strukturwandel im stationären Sektor mit Bettenreduzierung ins Stocken geraten wird“. Seiner Ansicht nach bleiben viele Fragen offen, darunter auch die nach den Finanzmitteln für die „digitale Ertüchtigung unserer vertragsärztlichen Praxen“. Vielmehr mache sich das Gefühl breit, „die Dinge selbst in die Hand nehmen zu müssen und auf Kosten sitzen zu bleiben“.
Verordnung zur Testung symptomfreier Menschen
Offene Fragen bleiben nach Ansicht von Dr. Carsten König auch bei der Verordnung zur Testung symptomfreier Menschen auf das Coronavirus SARS-CoV-2, die seit Mitte vergangener Woche in Kraft ist. „Meines Erachtens kommt die Verordnung zwei Monate zu spät“, kritisierte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende. Inzwischen ist geregelt, dass Vertragsärzte diese Testungen nur auf Veranlassung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) durchführen dürfen. „Ich gehe davon aus, dass es Beauftragungen geben wird“, ist König überzeugt mit Blick auf den Personalmangel im ÖGD überzeugt. „Der ÖGD wird auf uns zugehen. Wir werden aber auch auf den ÖGD zugehen.“ Während die Abrechnung der Laborkosten geregelt seien, sei die Frage der Honorierung der ärztlichen Leistung rund um den Abstrich jedoch noch immer offen. Die KVNo sei zurzeit „in intensiven Gesprächen“ mit dem NRW-Gesundheitsministerium und den Kommunen, um eine Rahmenvereinbarung zur weiteren Umsetzung der Verordnung und zur Zusammenarbeit mit dem ÖGD zu treffen.
Coronavirus beflügelt Digitalisierung
Nach Ansicht Königs hat die Coronavirus-Pandemie der Digitalisierung Rückenwind gebracht. So habe die Zahl der Genehmigungen für die Videosprechstunde Ende vergangenen Jahres noch bei 50 gelegen, bis vor drei Wochen habe sie bei rund 4.500 gelegen. Gestiegen ist zudem die Zahl der Notdienstpraxen, die sich an oder in Krankenhäusern befinden, auch wenn der von der Bundesregierung im Dezember vergangenen Jahres vorgelegte Gesetzentwurf zur Reform der Notfallversorgung derzeit ruht. Inzwischen seien 77 und damit alle dieser Praxen an oder in Krankenhäusern, 41 von ihnen sind Portalpraxen, wie sie die Politik fordert. Darüber hinaus arbeite die KVNo an der Errichtung weiterer zentraler fachärztlicher Notdienstpraxen.
Abschalten der TI in den Praxen keine Option
König ging auch auf die aktuelle Störung der Telematik-Infrastruktur (TI) ein und verwies auf die Resolution, die die VV der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in ihrer jüngsten Sitzung verabschiedet hat. Sie stellt klar, dass Versäumnisse der gematik nicht auf dem Rücken der Praxen ausgetragen werden dürfen, denen weder organisatorische noch finanzielle Aufwände bei der Behebung der Störung entstehen dürfen. Zeitweise konnten rund 70 Prozent der nordrheinischen Praxen wegen der Konnektor-Probleme keinen Versicherstammdatenabgleich vornehmen, bis dato ist erst knapp die Hälfte der betroffenen Konnektoren wieder an die TI angeschlossen. Die KV Nordrhein setzt sich dafür ein, dass das sogenannte "Ersatzverfahren" zur Anwendung kommt, wenn die elektronische Gesundheitskarte (eGK) bedingt durch die TI-Störung im laufenden Quartal nicht eingelesen werden kann. Der Möglichkeit, die TI in den Praxen abschalten zu können, erteilte König eine klare Absage. Denn das könne hohe Kosten verursachen, die die Praxen dann selbst tragen müssten. Zuvor hatte Dr. Gerd Büscher von der Freien Ärzteschaft diese Möglichkeit gefordert. „Wir müssen die Möglichkeit haben, die Geräte abstellen zu können, um in den Praxen problemlos weiterarbeiten zu können“, ist der Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Essen überzeugt. Sonst sei zu befürchten, dass „die Probleme die Praxen stillstehen lassen“.
Bessere Vergütung für Hausbesuche gefordert
Als "Ärgernis" bezeichnete König die nach wie vor ausstehende Einigung zu Hausbesuchen bei Patienten im Rahmen der Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM). „Die derzeitige Bewertung von Hausbesuchen, die aus dem Jahr 2011 stammt, ist nicht ausreichend und muss dringend angepasst werden. Sie deckt in keiner Weise den Aufwand der Kolleginnen und Kollegen ab, die gerade in der Coronakrise großen Einsatz bei Besuchen von Patienten gezeigt haben", sagte der KVNo-Vize-Chef.
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