1) Das Problem mit der Verordnung von Physiotherapie wirft ein Schlaglicht auf die desolate Lage unseres Gesundheitssystems.
Jährlich werden sage und schreibe allein 220 Mrd. Euro für die gesetzliche Krankenversicherung ausgegeben - aber für eine gute ambulante Versorgung meiner Kassenpatienten als Orthopäde reicht es vorne und hinten nicht.
2) Was mich dabei am meistens stört ist die verbreitete Heuchelei.
Seit Jahren vermitteln Politiker aller Parteien den falschen Eindruck, der sozialversicherte Patient hätte Anspruch auf die bestmögliche, optimale Behandlung. Und so erwarten viele Versicherte auch eine optimale ambulante Behandlung von ihrem orthopädischen Kassenarzt, nicht ahnend, dass diesem im Mittel pro ambulantem Patientenkontakt 5 Euro netto im Portemonnaie verbleiben.
Tatsächlich erfolgt schon aus diesem Grund keine optimale Diagnosestellung, keine optimale Beratung, keine optimale Behandlung, sondern eine 5-Euro-Billig-Medizin, eine Massenabfertigung im 5-Minuten-Takt - das erlebt ja jeder Kassenpatient tagtäglich.
3) Es wird nie offen angesprochen, dass die gesetzliche Krankenversicherung ihren Mitgliedern ambulant nur eine sehr stark eingeschränkte Versorgung zugesteht und nicht der Arzt entscheidet, wie er den Patienten behandelt.
Sondern das Gesetz und die Krankenversicherung schreiben dem Arzt vor, welche Leistungen er erbringen bzw. verordnen darf.
Das Sozialgesetzbuch legt ausdrücklich fest, dass der Patient dabei lediglich Anspruch auf eine ausreichende Behandlung hat – eben Note 4, und nicht befriedigend, gut oder gar sehr gut.
4) Und die Behandlung muss vor allem wirtschaftlich sein. Denn die Ausgaben für alles, auch für die ärztlichen Leistungen, sind „gedeckelt“, weil sie nur im Gleichschritt mit den Einnahmen der Krankenkassen steigen dürfen.
Oberste Maxime in der Gesundheitspolitik ist die Beitragssatzstabilität.
Im Klartext bedeutet dies: Wichtiger als eine gute ambulante Versorgung ist für unsere Politiker (und ihre Wähler), dass die Krankenkassenbeiträge nicht steigen.
5) Darunter leidet auch die Verordnung von Krankengymnastik, für mich als Orthopäden die wichtigste Begleitdisziplin bei der Behandlung von Gelenk- und Sehnenerkrankungen.
Seit 2016 wird dem Orthopäden in RLP für die Verordnung von Physiotherapie ein altersabhängiges Budget zwischen 20 und 30 Euro pro Patient und Quartal, also in 3 Monaten, zur Verfügung gestellt. Dieser Betrag deckt eine bis maximal zwei KG-Behandlungen ab, nicht 6 oder 12 oder 18, wie dies häufig indiziert wäre.
Damit können Physiotherapieverordnungen von mir im ausreichendem Maß nicht mehr verordnet werden, sondern weit, weit weniger. Patienten haben damit keine realistische Chance, die Funktion und die Schmerzen verbessernde Übungen zu erlernen und eigenverantwortlich zu Hause fortzuführen.
Es gibt zwar Sonderbudgets außerhalb dieser Deckelung, für den Orthopäden wichtige Krankheitsbilder sind hier Bandscheibenvorfälle mit Nervenbeteiligung oder der Zustand nach Endoprothesenoperationen an Hüfte, Knie oder Schulter. Dies sind aber weniger als 5% aller Patienten in meiner Praxis.
Gerade erst mit Beginn dieses Jahres wurde die Physiotherapieverordnung nach Sehnenoperationen an der Schulter aus dem Sonderbudget herausgenommen, alleine in meiner Praxis sind davon hunderte Patienten betroffen. Dabei benötigen gerade solche Schulterpatienten oft eine wochenlange intensive Übungstherapie.
Aus ärztlicher Sicht verstehe ich solche Entscheidungen nicht. Erklärlich ist das Ganze nur als konsequente Verfolgung der politischen Linie: Die Kassenbeiträge dürfen nicht überproportional ansteigen.
6) Besonders erschreckend finde ich, dass sich in meiner Praxis immer öfter Patienten vorstellen, die zuvor noch nie bei mir waren, nun aber nach einer Operation in einem der umliegenden Krankenhäuser bei mir vorstellig werden, ich solle die Nachbehandlung, also auch die meist aufwändige Physiotherapieverordnung übernehmen.
Die Patienten erzählen, man habe ihnen gesagt, ein Orthopäde wäre für die Weiterbehandlung zuständig und habe ein größeres Budget für die Krankengymnastik.
Ich fühle mich dann erpresst, denn einerseits brauchen die neuen Patienten die Unterstützung natürlich wegen der stattgehabten OP, andererseits nehmen sie meinen Stammpatienten das beschriebene Mini-Budget für Krankengymnastik auch noch weg.
In 2007 musste ich wegen von mir zum Wohle meiner Patienten verordneten Krankengymnastikbehandlungen – ich habe an der Verordnung keinen Cent verdient – 10.000 Euro Regress bezahlen. Das passiert mir garantiert nie wieder.
Und ich verschanze mich dann hinter der Zauberformel: „medizinisch nicht notwendig“ - und verweigere meinen Patienten das Krankengymnastik-Rezept.
7) Wer es sehen will, erkennt täglich, welche Fehlentwicklungen die Sparvorgaben aus der Politik zur Folge haben, auch für Hausärzte und Kliniken.
Niedergelassene Orthopäden wie ich fordern ja keinesfalls eine Luxusvergütung für die ärztlichen Bemühungen und auch keine Luxusversorgung für unsere Patienten, aber sehr wohl, dass das medizinisch Notwendige und Sinnvolle ausreichend lange und in ausreichendem Maß verordnet werden kann – ohne Regressbedrohung für den Arzt.
Die jetzigen Mini-Budgets stehen jedenfalls im Widerspruch selbst zum Minimalismus-Gebot des Sozialgesetzbuches - wirtschaftlich, ausreichend, notwendig, zweckmäßig - von einer optimalen Versorgung ganz zu schweigen.
Dies führt fast zwangsläufig zu dann lautstark als falsch beklagten Entwicklungen: Patienten werden schnell mit Tabletten oder Spritzen abgefertigt, für Gespräche bleibt überhaupt keine Zeit, Patienten bekommen alternative Verfahren angeboten, die, weil außerhalb des Leistungsangebotes der gesetzlichen Krankenversicherung, privat bezahlt werden müssen, und es wird schnell eine OP-Indikation gestellt.
Denn mit einer ½ stündigen ambulanten Operation können wir so viel verdienen wie mit 100 ambulanten Behandlungen in der Sprechstunde.
Aber nur so, und natürlich dank der Querfinanzierung durch die Einnahmen von Privatpatienten, können Orthopädische Praxen heute noch wirtschaftlich überleben.
Das existierende ambulante Gesundheitssystem ist bereits massiv aus dem Lot zu geraten und dabei, zu kollabieren. Wenn die Gesundheitspolitik mit ihren Vorgaben so weitermacht, ist die Frage nicht, ob es zum Zusammenbruch kommt, sondern nur wann.