Der G-BA-Vorsitzende gerät im Streit um telefonische Krankschreibungen zwischen die Fronten von Angela Merkel und Gesundheitsminister Spahn.
Keine gute Angewohnheit: Bevor Josef Hecken Vorträge hält und Sitzungen leitet, begibt er sich gern noch einmal für einen Glimmstängel vor die Tür. Hecken ist ausgerechnet Vorsitzender des höchsten Gremiums der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, dem Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA).
Dort handeln Ärzte und Krankenkassen Regeln und Vergütungen für medizinische Behandlungen aus. Ihm kommt eine entscheidende Rolle zu: Beide Parteien haben gleich viele Stimmen; die Stimme Heckens, als unparteiischem Vorsitzendem, ist häufig entscheidend.
Aktuelles Beispiel: Am vergangenen Freitag hatte der G-BA beschlossen, dass Ärzte ihre Patienten bei leichten Atemwegsbeschwerden nicht mehr per Diagnose am Telefon krankschreiben dürfen, sondern dass die Erkrankten wieder die Praxis aufsuchen müssen.
Die Kassenvertreter stimmten gegen eine Verlängerung der Ausnahmeregelung, die wegen des Coronavirus eingeführt worden war – wie auch Hecken, dessen Stimme den Ausschlag gab. Eine in Coronazeiten weitreichende Entscheidung.
Am Wochenende hagelte es Kritik an Heckens Entscheidung von allen Seiten: angefangen von den Ärztevertretern, Oppositionspolitikern als auch der SPD. Das Argument: Die Ärzte würden unverhältnismäßig gefährdet werden. Am Montag soll Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) interveniert haben, berichten politische Kreise dem Handelsblatt.
Jens Spahns Wille zählt
Das zeigte Wirkung: Sogleich folgte am Montagnachmittag der Rückzug. Der G-BA werde sich noch am selben Tag erneut mit den telefonischen Krankschreibungen befassen, erklärte Hecken. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit“ werde die Ausnahmeregelung nun doch bis zum vierten Mai verlängert.
Dass es Hecken war, der den Rüffel der Kanzlerin abbekam, stimmt nicht so ganz. Denn er stellt auch klar, dass der Stopp der Telefon-Diagnose am Freitag „in Kenntnis“ mit dem Bundesministerium für Gesundheit getroffen worden sei.
Und das ist nach Handelsblatt-Informationen aus Koalitionskreisen nichts weiter als eine Umschreibung für „Spahn habe es so gewünscht“ – Gesundheitsminister Jens Spahn von der CDU. Hecken hatte seiner Diplomaten-Rolle im G-BA gerecht werden wollen, heißt es. Er selbst hält den sofortigen Stopp für nicht falsch, soll aber eine Übergangszeit von der Ausnahmeregelung als Kompromiss vorgeschlagen haben.
Doch „Jensi“ beziehungsweise „de Prinz“, wie Rheinländer Hecken den Gesundheitsminister gern nennt, soll auf den sofortigen Stopp der Ausnahmeregelung als einen der ersten Schritte des Exitplans gedrängt haben. Der G-BA ist in seinen Entscheidungen zwar unabhängig, das hatte Spahn am Montagmittag mit Blick auf die Telefon-Debatte noch einmal betont.
Schwerfälliger Ausschuss
Doch die Gesetzgebungskompetenz liegt bei dem Minister, der damit am längeren Hebel sitzt und Hecken dorthin treiben kann, wo er ihn gern hätte. Hatte Hecken mit Spahn vor seiner Zeit im Bundeskabinett noch ein gutes Verhältnis, beschneidet der Minister nun zunehmend Heckens Verantwortungsbereich.
Dem G-BA eilt der Ruf der Schwerfälligkeit voraus, weil so viele verschiedene Interessen zusammenkommen. Das passt nicht zu Spahns Politikstil. Hecken wurmt die schwindende Macht, daraus macht er keinen Hehl, so wie er das bei den meisten Dingen tut.
Der 60-Jährige ist ein waschechtes Kind des Rheinlands. Jemand der sagt, was er denkt, inklusive emotionaler Ausbrüche. Wenn er über die Angriffe seiner Gegner spricht, sagt er nicht „Kritiker sagen über mich“, sondern „Hecken, die Sau“ habe ja wieder dieses und jenes gemacht. Doch gerade das schätzen viele an ihm.
„Hecken ist kein angestaubter Verwaltungsbeamter, sondern jemand, mit dem man offen diskutieren kann“, sagt ein Koalitionspolitiker. Das gelte auch für die Zusammenarbeit mit Spahn, trotz aller Reibereien. Hecken ist studierter Jurist. Seit 1991 ist er in der Bundespolitik unterwegs, vor seiner Berufung zum G-BA-Chef 2012 war er Staatssekretär im Familienministerium.
Seine jetzige Aufgabe ist in Coronazeiten wichtiger denn je. Der G-BA hat in den vergangenen Wochen eine Reihe von Erleichterungen für Krankenhäuser und Arztpraxen beschlossen, Dokumentationspflichten und Personaluntergrenzen heruntergefahren.
Doch Hecken betont stets, dass die Coronasorgen nicht zu einer „kalten Triage“ führen dürften: Es sei hochgefährlich, wenn durch Covid-19 andere lebensbedrohlich Erkrankte aus dem Blick geraten. Deshalb dürften auch telefonische Diagnosen nur eine Ausnahme sein. So weit sind sich Hecken und Spahn dann also doch wieder einig.
Mehr: Nach wochenlangem Stillstand läuft das öffentliche Leben in Deutschland ab diesem Montag langsam wieder an: Vor allem viele Geschäfte dürfen wieder öffnen.